Grundriss eines Rätsels : Roman

Roth, Gerhard, 2014
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Medienart Buch
ISBN 978-3-10-066068-8
Verfasser Roth, Gerhard Wikipedia
Systematik DR - Romane, Erzählungen und Novellen
Schlagworte Wien, Flüchtling, Mord, Abenteuer, Alltag, Schriftsteller, Künstlerroman, österreichischer Autor, Täuschung
Verlag S. Fischer
Ort Frankfurt am Main
Jahr 2014
Umfang 506 S.
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Gerhard Roth
Annotation Quelle: Literatur und Kritik;
Autor: Gerhard Zeillinger;
Die Wirklichkeit ist ein Schimpanse
Gerhard Roths "Grundriss eines Rätsels"
Als Gerhard Roth 2011 sein über 660 Seiten starkes Opus magnum Orkus. Reise zu den Toten vorgelegt hat, eine ebenso tiefsinnige wie opulente Reflexion praktisch seines Gesamtwerks, war das wie ein gewaltiger Schlussakkord, und man hat sich vielleicht gefragt, ob dieser auch einen literarischen Abschluss, eine ultimative Festfügung bedeute. Immerhin ist es seit der Ankündi-gung des namensgleichen, freilich neun Jahre älteren Philip Roth, keinen Roman mehr zu schrei-ben, nicht undenkbar, dass auch andere Autoren auf die Idee kommen zu sagen, jetzt sei es ge-nug. Bei Gerhard Roth hat es indes lediglich drei Jahre gedauert, dass ein neuer, 500-Seiten star-ker Roman auf den Buchmarkt gekommen ist.
Aber auf ebendiesem, gemeint der große Buchmarkt in Deutschland, gilt Roth trotz seiner nun-mehr insgesamt 22 Romane (neben Erzählungen, Essays, Fotobänden und Drehbüchern) als weitgehend "absenter" Schriftsteller, zumindest wenn man der deutschen Literaturkritik Glauben schenkt. Im Ernst hat das Berliner Wochenmagazin Der Freitag anlässlich des Erscheinens von Roths jüngstem Roman gefragt: "Wer ist dieser Mann?", und die Frage mit dem Fehlen seines Namens auf der deutschen Buchpreisliste begründet. Vom "Verschwinden vom Radar der deut-schen Literaturkritik" war gar die Rede, obwohl auch in Deutschland der Stellenwert als einer der wichtigen Schriftsteller der Gegenwart keineswegs in Zweifel gezogen wird.
Aber warum ist das wirklich so, warum ist Gerhard Roth kein Kandidat für den deutschen Buch-preis? (Sein Roman wurde nicht einmal für die Longlist berücksichtigt.) Ist seine Literatur, die immerhin in einem der traditionsreichsten deutschen Verlage erscheint, den jeweiligen Juroren nicht innovativ genug, weil Roth ebendieses Handwerk so gut beherrscht? Oder liegt es daran, dass seine Romane "territorial" über Österreich, noch dazu die österreichische Provinz, zu wenig hinauskommen?
Wie auch immer, Gerhard Roth muss niemandem mehr etwas beweisen. Die deutschen Buch-preis-Juroren ignorieren auch andere renommierte Autoren (etwa Wilhelm Genazino), im Grunde besagt das wenig, denn derart publikumsträchtige Preise sind ohnehin kein geeigneter Gradmes-ser. Und weil schon der berühmte Philip Roth erwähnt ist: an ihm wurde der Literaturnobelpreis, für den er so lange genannt wurde, stets auch vorbeigereicht. Kein Kritiker aber käme auf die Idee, deswegen zu fragen: Wer ist dieser Mann?
Aber kommen wir endlich zum Buch selbst: ein großer Roman in Fortsetzungen, mit unterschiedli-chen Schauplätzen, Perspektiven, Zeiten, und doch mit denselben Personen und derselben Ge-schichte. Das hört sich zumindest schon formal interessant an (von wegen "konventionelle" Lite-ratur), dazu gibt es auch durchaus experimentelle Einschübe, und nicht zuletzt greift der Zeithori-zont einmal auch weit in die Zukunft voraus, eine Generation später, ins Jahr 2040. Die zeitliche Distanz ändert aber nichts an der Kohärenz der klug aufgebauten Handlung, die man auf Leben und Schreiben, einen Zusammenhang im Goetheschen Sinn, verknappen könnte.
In Grundriss eines Rätsels geht es um das letzte, verschollen geglaubte Manuskript des Schrift-stellers Philipp Artner, mehr noch aber um die Frage, wer Artner wirklich war. Dass in diesen "Grundriss" das Muster eines Kriminalromans ebenso eingeflochten ist wie ein Netz kunstge-schichtlicher Betrachtungen, macht den Roman noch vielschichtiger, ja, fast interdisziplinär. Da-bei fängt alles sehr alltäglich an. Zu Beginn erleben wir den Schriftsteller als lärmgeplagten Zeit-genossen: In der Nachbarwohnung schreit eine demente Frau, das Haus in dem er wohnt, am Heumarkt in Wien, wird gerade renoviert, an Arbeiten ist nicht zu denken. Artner flüchtet sich in Stadtspaziergänge, in jenes "Innere von Wien", dem Gerhard Roth vor über zwanzig Jahren be-eindruckende Essays gewidmet hat. Hier könnte auch das Spiel mit den Wirklichkeiten ansetzen, in die Roth seine Figuren gerne eintauchen lässt und die den Leser als unbekannte und rätselhaf-te Gegenwelten faszinieren - aber das ist freilich schon ein Vorgriff auf das Folgende und ein we-nig auch ein Anklang an die beiden Romanzyklen, die Archive des Schweigens und den Orkus-Zyklus, mit denen Gerhard Roth Literaturgeschichte geschrieben hat. Wer mag, kann in Philipp Artner sowieso das Alter Ego des Autors erkennen, wobei unerheblich scheint, was nun autobio-grafisch oder erfunden ist. "Wirklichkeit ist Wahrheit und Phantasie", definiert Roth selbst, der sich in diesem Roman eingestandenermaßen selber zusieht, sich selbst seziert, ja gar vivisektiert, wie er es nennt.
Dass er seine Hauptfigur schon auf Seite 70 sterben lässt, mag dabei nur auf den ersten Blick überraschen, denn Philipp Artner dominiert die Handlung bis zum Schluss, gleichsam als lebender Toter bis hin zur "Wiederkehr". Es ist nur kein sehr eindrucksvoller Abgang: In Artners Wohnung detoniert die Gasleitung, von ihm selbst bleibt buchstäblich nichts übrig. Leben und Schreiben lösen sich in Asche auf. Oder doch nicht?
Am Tag seines Todes, fast zeitgleich, erscheint Vertlieb Swinden, wissenschaftliche Hilfskraft am "Heimito-von-Doderer-Institut", das den Vorlass Philipp Artners gekauft hat. Swinden ist mit Artner verabredet, um über dessen neues Manuskript zu sprechen; als er zur Wohnung am Heu-markt kommt, ist das Unglück schon passiert: "Schwarzer Rauch zog über das Dach des Gebäu-dekomplexes, in dem Artner wohnte."
Ein Alptraum gewiss für jeden Archivar. Übrigens könnte man den Verweis auf dieses Doderer-Institut, das mit dem Handlungsträger aus dem Hintergrund korrespondiert, wie eine späte Hommage an Schmidt-Dengler lesen, nicht ohne Grund, liegen doch im Österreichischen Litera-turarchiv seit Jahren zwei Teilvorlässe Gerhard Roths. - Aber zurück zur Fiktion, in der nun Merk-würdiges passiert. Vertlieb Swinden begibt sich auf die Spuren des toten Schriftstellers, er ent-deckt, dass dieser hinter dem Rücken seiner Frau ein Doppelleben geführt, in der Südsteiermark eine Geliebte und mit der Geliebten einen Sohn gehabt hat. Swinden tritt nicht nur in das Leben des toten Artner, indem er sich in dessen Landhaus einquartiert und sich nach und nach seine Gewohnheiten zu eigen macht, er tritt auch in das Leben dieser Familie, man könnte auch sagen, er schleicht sich ein, so wie er sich immer weiter in die Identität Artners einschleicht, sich bald heillos mit ihm identifiziert, mit der Absicht, Artners Leben weiterzuführen.
Dass er dabei auch das verschollen geglaubte Manuskript entdeckt, es nämlich im Haus der Ge-liebten findet und dort stiehlt, ist natürlich von vornherein in der Geschichte angelegt. Und doch ist gar nicht so wesentlich, was in dem mysteriösen Manuskript, dem letzten Werk Artners, wirk-lich steht. Wir erfahren einmal, es sei eine "Liturgie des Nebensächlichen", und schon befinden wir uns in einem Teil österreichischer Literaturtradition, dem, was man bei Stifter die "kleinen Dinge" nennt, sie spielen auch bei Roth eine gewichtige Rolle, als könnte das Nebensächliche unser Sein erklären. Zumindest formuliert der Autor auf diese Art stückweise eine fremde Wirk-lichkeit, die immer mehr von der realen Wirklichkeit Besitz ergreift und alles, was in ihr geschieht, als schon geschehen beschreibt. Bei der Lektüre des Manuskripts muss Swinden nämlich erken-nen, dass er nur eine Figur Artners ist, "dass ich von Artner geschrieben worden war Alles, was ich gerade jetzt dachte, war im handgeschriebenen Manuskript aufge 1354 zeichnet", und: "Wie konn-te er das geschrieben haben, wo er doch tot war?"
Das ist im literarischen Sinn "unerhört" genug, aber wo die Handlung dabei ist, die Folie des Re-alen zu verlassen, ist sie wiederum ganz aktuell realitätsnah, denn die Suche nach der Identität eines Schriftstellers ist in eine lokale Kriminalgeschichte eingebettet: Auf dem Land, wo Artner seine zweite Existenz geführt hat, werden drei Tschetschenen ermordet, und jedes Mal, wenn eine Leiche gefunden wird, ist Vertlieb Swinden zugegen. Gleichwohl geht es nicht darum, Span-nung aufzubauen, als ob der Roman Unterhaltungselemente bräuchte, der Fall ist anfangs so verworren wie die psychologischen Verwicklungen der Innenwelt, gewinnt aber schließlich an po-litischer Dimension, als sich herausstellt, dass ein rechtsradikales Netzwerk hinter den Morden steht und die Täter mitten in der dörflichen Gesellschaft zu finden sind.
Aber es bestimmen oder vielmehr erzählen noch ganz andere Wirklichkeiten, man kann sie in Artners Bibliothek, in seinen Aufzeichnungen entdecken, aber auch in Artners Sohn, der Jahrzehn-te später noch einmal den Schauplatz der Handlung betritt. Der Blick auf das Leben ist stets von der Kontemplation aus der Beschäftigung mit abendländischer und fernöstlicher Kultur durch-drungen, so dass das vorletzte Kapitel im Roman nicht zufällig in Japan spielt. Da tritt auch Vert-lieb Swinden, der vorübergehend abgetaucht, nämlich in der Psychiatrie gelandet ist, wieder auf den Plan, an der Seite von Artners Frau Doris, um bald darauf abermals zu verschwinden. Im Ge-genzug taucht jemand anderer auf: Eine Affengestalt, ein Schimpanse sucht Artners Frau einige Male in Japan heim, kommt nachts ins Hotelzimmer und legt sich zu ihr ins Bett. Bis Doris schließlich sagt: "Ich möchte, dass Du gehst". Und er? "Ich bin Philipp, gab der Affe zur Ant-wort."
Erinnern wir uns vierhundert Seiten zurück: "Philipp Artner ist nicht tot." Sagt, entschieden, ja giftig, jene Frau in der Südsteiermark, die den Schlüssel zu seinem Haus verwaltet. Und als Art-ners Frau in Japan nach einer Erklärung sucht, ist sie unversehens - nein, nicht unversehens - in die Welt des Shintoismus geraten. Und nun: Darf ein Roman, der ernst genommen werden will, am Ende esoterisch werden? Oder zumindest in einem metaphysischen Finale enden? Ein Stirb-und-Werde-Roman? Die Handlung ist schließlich darauf aufgebaut, das Konstrukt von Artners Existenz mit Fortdauer immer weiter zu destabilisieren, entsprechend bringen auch die Recher-chen des Germanisten Swinden Täuschungen und Halbwahrheiten ans Licht. Aber soll die De-struktion, in die der Klärungsversuch mündet und die wohl nach Re-Konstruktion verlangt, eine solche Aura über das Rätsel legen, dessen Grundriss nur eine blasse Andeutung ist? Sind das die Geheimnisse des Schreibens und Lebens? Dann wäre die Frage vielleicht, ob dem nicht doch eine Spur realistischer zu begegnen gewesen wäre. Gerhard Roth, was immer ihn bewogen hat, lässt sein Alter Ego jedenfalls in die Mythologie entfliehen - und der Leser muss mit.
Exemplare
Ex.nr. Standort
9623 DR, Rot

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